Herbst I97I - Horst Weidlich, dieses Schlitzohr, hat mich jetzt doch tatsächlich überredet, mit ihm ein Kletterwochenende im Oberreintal zu
verbringen. Nicht, daß das Oberreintal ein schlechtes Klettergebiet wäre, beileibe nicht, für mich ist es eines der besten Klettergebiete überhaupt. Doch wenn ich einen Wochenendtrip von Nürnberg ins
Oberreintal unternehme, dann muß ich wieder in die Gondaverschneidung am Oberreintaldom einsteigen, und diesmal muß ich die zweite Seillänge vorsteigen, dort, wo der Sani, mit bürgerlichem Namen Josef Helnl,
fast 20m abgetaucht ist. Dabei hat er sich die Zähne eingeschlagen und fürchterliche Prellungen und Abschürfungen zugezogen. Wir wurden von den "Oberreintalern" rausgeholt und die Domrinne
abgeseilt. Der Sani wurde mit einem Hubschrauber abtransportiert, und die Oberreintaler haben noch eine ganze Zeitlang das schöne Lied "kommt ein Sani geflogen" am Hüttenstammtisch zum besten
gegeben. Bei dieser Aktion war ich der Fänger und habe heute noch weiße Streifen unter den Achselhöhlen. Die Crux an der ganzen Sache ist, daß der Sani eigentlich viel besser klettert als ich und daß
mir deshalb als Vorsteiger der zweiten Seillänge der Gonda am Dom nur ein Schicksal bestimmt ist: ich baue einen ganz fürchterlichen Sturz. Zwei ganze Jahre habe ich mich vor dem Oberreintal drücken können,
und nun findet am Wochenende das große Wiedersehen statt. Andi Sprunck und Dieter Lechner, den sie Schrumpel nennen, sind mit von der Partie. Am Freitag sind wir dann doch zu fünft. Dieter beharrt
darauf, seine neueste Flamme, die er tags zuvor in einer Kneipe kennengelernt hatte, mitzunehmen. Haltet mich bitteschön nicht für ein Macho-Ekel, aber ich kann mich an den Namen des Mädchens nicht mehr
erinnern; ich werde sie deshalb im weiteren Verlauf nur Flamme nennen. Der Andi, der Horst und die Flamme quetschen sich also zu dritt in den Renault des Dieter Lechner hinten rein, und ich am
Beifahrersitz werde noch mit einem riesigen Kletterrucksack eingeengt. So düsen wir am Freitag mittag von Nürnberg ab in Richtung Gebirge. Es kommt, wie es kommen muß. Die Flamme hält sich auf der
Forststraße nach der Partnachklamm noch recht wacker, bricht aber bei der Abzweigung vom Reintal ins Oberreintal körperlich vollkommen ein. Das bedeutet eine Pause von einer Stunde, und das alles bei
meinen blankliegenden Nerven. Anschließend schleppen wir uns nur noch im Zeitlupentempo weiter. Bei jeder dritten Kehre ist eine weitere Pause fällig. Es wird dunkel: Der Mond geht auf und wir
haben immer noch ein Dutzend Serpentinen vor uns. Als wir die Schachenabzweigung erreichen, sind die Gipfel des Oberreintales in ein hellglänzendes Mondlicht gehüllt. Die Pfeiler der Nordwand des
Oberreintaldomes grenzen sich deutlicher ab als bei Tageslicht. Horst meint, wir sollten eigentlich gleich in die Gonda einsteigen, dann hätten wir die Scheiße hinter uns und könnten ein gemütliches
Wochenende verbringen. Der Dieter ist rührend um die Flamme bemüht, dem Andi ist eh alles wurscht und ich bin stinksauer und würde am liebsten wieder ins Tal zurückgehen. Kurz vor Mitternacht erreichen
wir die Oberreintalhütte und ich öffne die Tür; ein Gaslicht verbreitet schummriges Licht - mein Gott - der Stammtisch ist ja noch voll besetzt. Ein junger, lang aufgeschossener schwarzhaariger Bursche
schlägt mit der geballten Faust wie ein Boxer in eine Kuhglocke, die an einem Strick über dem Stammtisch befestigt ist. Es klirrt und scheppert. jetzt erkenne ich ihn, das ist ja der Hubert Bredl, der
Kletterstar der hiesigen jungmannschaft und daneben der kleine Untersetzte, das ist der Charly Wehrle, der später einmal selber Hüttenwirt werden sollte. Wir haben uns an einem Faschingsball kennengelernt
und bei dieser Gelegenheit die Bar weitgehend geleert. Werner, der Hüttenwirt, schenkt derweil die fällige Maß Bier ein, und die Oberreintaler rücken zusammen, so daß wir am Stammtisch auch noch Platz
nehmen können. Der Horst und ich spendieren auch noch je eine Maß Bier, was wir durch einen Schlag auf die besagte Kuhglocke bekräftigen. Einige alte Geschichten werden noch einmal aufgewärmt und
dann wird wieder gemeinsam das schöne Lied gesungen: "Kommt ein Sani geflogen". Irgendwann ist auch im Oberreintal die Hüttenruhe fällig, und Werner weist uns die Schlafplätze zu. Dieter zieht
sich mit seiner Flamme auf die leeren oberen Stocklager zurück. Ich kann wieder einmal nicht einschlafen, der Andi neben mir schnarcht fürchterlich, und von oben dringen penetrant rhythmische Geräusche
herunter. Ich denke noch, der Schrumpel, diese Sau, und dann knacke ich wegAm nächsten Tag sind wir um halbacht beim Frühstücken im Hüttenraum. Der Dieter schaut noch schrumpeliger aus als
gewöhnlich, der Horst Weidlich ist wie immer so richtig widerlich topfit, und ich habe einen ganz schönen Brand und hätte mir schrecklich gern ein Weißbier einverleibt, traue mir das aber nicht so recht bei
dieser Tageszeit. Es wird wenig gesprochen, und wir kauen recht lustlos an den mitgebrachten Wurstbroten herum. Aufgrund der Vorfälle der vergangenen Nacht wird für den Dieter Lechner ein neuer
Spitzname kreiert. Ab sofort ist er nicht mehr der Schrumpel, sondern der Pemper. Ich glaube, er haßt beide Namen. Die Flamme liegt derweil noch oben im Schlafraum. Natürlich würde ich
liebend gerne jede andere Tour klettern, aber mit so einem Vorschlag brauche ich den Kumpels erst gar nicht zu kommen. Die haben einfach ein irres Selbstbewußtsein. Hintereinander klettern wir
seilfrei die Domrinne bis zum Einstieg der Gondaverschneidung hoch, Plattenkletterei im dritten Schwierigkeitsgrad mit einigen brüchigen Passagen. Horst geht voraus und legt wie gewöhnlich ein
Wahnsinnstempo vor. Er ist zwar Mit 20 Jahren der jüngste von uns, hat aber bereits im zarten Alter von I5 Jahren die Comici an der Großen Zinne gemacht und ist somit eigentlich der Star unserer kleinen
Truppe. Andl und Dieter, der ja nunmehr Pemper heißt, sollen nach uns in die "Gonda" einsteigen. Wir werden ihnen dann in der berechtigten zweiten Länge ein Seil herunterlassen. Horst
erreicht natürlich als erster den Einstieg der "Gonda" und bereitet die Seile fürs Klettern vor. Wie ein geölter Blitz stiert er die erste Seillänge hoch und sichert mich nach. jetzt bin ich an
der Reihe. Ich schnüre meine Bergstiefel der französichen Marke Supergulde, die mit den Stahleinlagen, verstaue meine dreistufige Trittleiter mit Flfihaken in der Hosentasche, überprüfe noch einmal die
Gurte an meinem Rucksack. Im Geiste sehe ich noch den Sani mit blutendem Maul herumhängen. Dann schnaufe ich ein paarmal kräftig durch und los gehts. Acht Meter über dem ersten Standplatz ist ein
auffälliger Felszacken, darüber hat der Sani damals eine Reepschnurschlinge gelegt; die erste Zwischensicherung, die es zu erreichen gilt. In Piazstellung, die Beine in Bauchhöhe, reiße ich ein paarmal an
einer Felsschwarte durch und habe in nullkommanichts den bereits erwähnten Felszacken erreicht; das ist ja hervorragend gegangen. jetzt schnell eine Schlinge über den Zacken gelegt, einen Karabiner eingeklickt
und das Seil eingeklinkt. Ich wurstle meine Trittleiter aus der Hosentasche, hänge sie mit dem Fifihaken in den Karabiner ein und steige in die zweite Sprosse. Die Schlinge knackt ein bißchen, doch
ich kann aus dieser Stellung mühelos einen rostigen Haken erreichen. Dann wiederholt sich dieses Spielchen, Karabiner rein, Seil rein, Trittleiter rein. Weiter oben muß ich noch einige Meter am Fels
hochklettern, weil keine Haken mehr stecken. Dann erreiche ich den Standplatz der zweiten Seillänge, gekennzeichnet durch mehrere rostige Haken. Es ist nicht zu glauben; ich brülle meine
Erleichterung hinaus. Wo um Gottes willen ist denn da der Sani gestürzt. Das war doch eine meiner leichtesten Disziplinen. Man kommt sich ja tatsächlich vor wie ein Kandidat auf dem elektrischen
Stuhl, dem sie hinterher mitteilen, daß alles nur ein Faschingsscherz gewesen ist. Horst hat erwartungsgemäß nicht die geringste Schwierigkeit, diese Seillänge im NachStieg zu meistern. Dann warten
wir endlos lange auf die beiden Freunde. Wil hören sie rufen und schreien und lautstark diskutieren. Wir lassen ein Seil hin. unter; es rührt sich nichts. Schließlich sind wir überzeugt, daß
weiteres Warten sinnlos ist, und Horst geht die dritte Seillänge an. Wir sind schon weit oben, da können wir ganz unten einen weißen Steinschlaghelm erkennen. Horst bildet mit den beiden Handflächen
einen Trichter und dann brüllt er mit aller Kraft - Peeemper - Pemper, und es hallt in der Domrinne Pemp-Pemp-Pem. Drüben am Unteren-Berggeistturm schreit einer ganz laut: "Hei mi leckst am
Arsch!" Das ganze klingt aber wie: "Hoi mi leckst.' Ganz klar, das ist der Wehrle Charly, die sind am "Gelben U' des Unteren Berggeistturms. Nur von unseren Freunden ist nichts zu
sehen und nichts zu hören. Plötzlich sind wir im dichtem Nebel eingehüllt, und als wir die letzte Seillänge angehen, kann man kaum mehr Konturen erkennen. In Richtung Zugspitze grummelt es
verdächtig. Ein Gewitter, das kann es im Herbst doch gar nicht geben. Mit dem Abstieg habe ich mich natürlich nicht beschäftigt, weil ich davon ausgegangen bin, daß ich die zweite Seillänge eh nicht
hochkomme. Horst hat sich hierbei ganz auf mich verlassen und ist stinksauer. Nach kurzer Diskussion beschließen wir, den schnellsten Weg zu nehmen. Wir klettern einfach südseitig in zwei
getrennten Rinnen ab, weil wir uns über den genauen Abstiegsweg nicht einigen können. Ich habe offensichtlich den besseren Weg gewählt, weil Horst 3om rechts von mir mit Abseilmanövern beginnt. Dann
stehe ich vor einem Abbruch, und Horst schreit, daß ich zu ihm rüberqueren soll. Im ungünstigsten Augenblick fängt es auch noch fürchterlich zu regnen an. Dann schlägt oben am Grat ein Blitz ein, daß
es nur noch so kracht. Horst gibt einen seiner bekannten saublöden Witze zum besten; mir wäre es lieber gewesen, wenn der Kerl auch ein wenig Nerven gezeigt hätte. Gemeinsam seilen wir weiter ab und
sind irgendwann im Schüsselkar. Mittlerweile regnet es in Strömen, und in absoluter Dunkelheit tasten wir uns zur Hütte zurück. Hier erwartet uns die große Überraschung. Andl und Dieter sind nicht
hier. Wir hatten fest angenommen, daß sie die Gonda wieder abgesellt sind und seit Stunden auf der Hütte auf uns warten. Die Flamme ist in Tränen aufgelöst und kann auch durch Charly, der so etwas
normalerweise meisterhaft beherrscht, nicht beruhigt werden. Was sollen wir schon bei Nacht und Nebel unternehmen. Wir pressen uns einige Bierchen rein und singen am Stammtisch mit der ganzen Meute
das Oberreintallied. Der Hubert Bredl spielt mit der "Ziach" groß auf und ich muß zu meiner Schande gestehen, daß es noch ein richtig lustiger Hüttenabend geworden ist. Am nächsten Tag treffen
sie in aller Frühe ein. Sie sind patschnaß und auf uns stinksauer. Schließlich können wir sie beruhigen und tatsächlich davon überzeugen, daß wir doch nicht die größten Kumpelschweine auf dieser Erde
sind. Nach ihren Erzählungen ist der Dieter schon in der ersten Seillänge gescheitert, die hat dann wider Erwarten der Andl vorgestiegen. Daraufhin hat der Dieter so einen Haß gehabt, daß er die schwere
zweite Seillänge ohne Zögern im Vorstieg angegangen ist und zu seiner eigenen Überraschung auch noch geschafft hat. Das hätte ich ihm auf keinen Fall zugetraut. Auf dem Gipfel haben sie fest damit
gerechnet, von uns empfangen und sicher zur Hütte geleitet zu werden. Als sie niemanden mehr vorgefunden haben, sind sie wie wir einfach südseitig abgestiegen. Wahrscheinlich haben sie sogar die
gleiche Rinne wie wir benutzt. Kurz über dem Schüsselkar müssen sie biwaklert haben. Es wird noch hin- und herpalavert und was wäre wenn, und die jungens haben sich schon halb in der Grube
gesehen. Horst gibt noch einige zynische Bemerkungen zum Besten. Schließlich und endlich trinken wir zusammen eine Friedensmaß und dann noch eine, und dann ist es Zeit Abschied zu nehmen. Die
"Locals', die keine stundenlange Heimfahrt vor sich haben, sitzen natürlich wie einbetoniert am Stammtisch. Eine weitere faustdicke Überraschung erwartet uns dann noch im Tal. Dieter hat vor
lauter Palavern und Streiten seinen Geldbeutel und seine Autoschlüssel im Oberreintal vergessen. Die Fronten sind natürlich geklärt, die Biwakleute und die Flamme lassen sich gemütlich im nächsten
Wirtshaus nieder, und wir beide nehmen den langen Marsch ins Oberreintal wieder auf uns. Da sieht man, wie schnell man vom "Kumpelschwein" zum "Armen Schwein" degenerieren kann.
Natürlich wieder so eine zynische Bemerkung von Horst Weidlich, was regst du dich über den ganzen Schmarrn auf Das alles ist halt das ganz normale Leben im Oberreintal.
Und was ist nun aus ihnen allen geworden?
Die Gondaverschneidung:
ist ein Opfer der Leistungsexplosion der Achtziger- und Neunzige@ahre geworden und führt heute im Oberreintal nur noch ein unbedeutendes Dasein.
Die Flamme: Wurde drei Wochen später durch eine neue Flamme abgelöst.
DieterLechner: Hat nach Geburt seiner ersten Tochter aus Sicherheitsgiünden mit dem Klettern aufgehört
und ist vor Geburt seiner zweiten Tochter in der Schweiz beim Bergsteigen tödlich verunglückt.
Horst Weidlich: Hat aus Sicherheitsgründen mit dem Klettern aufgehört; nachdem mehrere Freunde von uns
abgestürzt sind. Geht heute zum Gleitschirmfliegen. Andi Sprunck: Hat sich nach diesem Wochenende mehr und mehr vom Klettern zurückgezogen und über einen langen Zeitraum ein erfülltes Leben als
Casanova-Verschnitt geführt. Soll in dieser Zeit auch zahlreiche Werdenfelser Frauen "gekannt' haben.
Hubert Bredl: Hat mittlerweile die Figur eines Japanischen Sumoringers. Träumt heute noch vom
Oberreintal wie ein romantischer Neunzigjähriger von seiner verflossenen Jugendliebe.
Charly Webrle: Ist als Hüttenwirt des Oberreintales und der Reintalangerhütte und auch als Weltenbummler
ziemlich bekannt geworden.
Der Erzähler: Ist einer jener harten Kletteroldies geworden. Schwirrt so als Dinosaurier heute
noch im Oberreintal herum und langweilt die jungen Kletterer mit den alten Geschichten von der Gondaverschneidung.
Josef Heinl genannt Sani: hat zahlreiche Erstbegehungen durchgeführt und ist auch ein profilierter
Alpinist geworden. Die Porzellanzähne haben hierbei offensichtlich nicht gestört.
Die Oberreintalhütte: Ist dank dem rührigen Hüttenreferenten der Sektion
Garmisch-Partenkirchen Werner Lindauer und den verschiedenen Hüttenwirten das Schatzkästchen geblieben.
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